Das Bloßstellen tatsächlicher oder vermeintlicher Übeltäter im Netz ist mittlerweile Social-Media-Alltag. Während sich viele kluge Köpfe darüber Gedanken machen, wie man Fake News und Hasspostings in den Griff bekommt, scheint sich über das Phänomen Public Shaming kaum jemand Gedanken zu machen. Warum eigentlich nicht?

Eingangs ein kurzes Gedankenexperiment: Angenommen, eine Partei – suchen Sie sich die aus, der Sie diesen Vorschlag am ehesten zutrauen – fordert einen Internetpranger. Fotos und Namen verurteilter Straftäter sollen für alle sichtbar im Internet verbreitet werden. Die öffentliche Reaktion auf diesen Vorschlag? Ein Aufschrei, ziemlich sicher. Internetpranger geht gar nicht. Wir leben ja nicht im Mittelalter. Oder den USA.

Auch verurteilte Gewalt- oder Sexualstraftäter haben Rechte. Aber jetzt wird es spannend. Für die Verfasser von sogenannten Hasspostings im Internet gelten offenbar andere Spielregeln.

Letztens machen in meinem Facebook-Feed Hasspostings die Runde. Heftig, was da zu lesen ist. „zwangsterilisieren diese drecksau und ab in ein arbeitslager“ (sic). Auch Schimpfwörter wie „Dreckfotze“ fallen. Die Beschimpfungen richten sich gegen eine bekannte österreichische Autorin. Womöglich haben Sie den Shitstorm gegen Stefanie Sprengnagel medial mitbekommen.

Ich kenne keine Menschen, die solche menschenverachtende Scheiße (sorry) schreiben. In meinen Facebook-Feed schafften es die Postings als Screenshots, verbreitet vom Chefredakteur einer namhaften Wochenzeitung und gelikt von einigen meiner Freunde. Weder Gesichter noch Namen der Autoren der Beschimpfungen waren auf den Screenshots unkenntlich gemacht. Offenbar sollte jeder sehen, wer diesen Schmutz verfasst hat. Public Shaming heißt das auf Neudeutsch.

Das ist wahrscheinlich eine sehr unpopuläre Meinung, aber ich halte solche Aktionen für verzichtbar. Die Polizei veröffentlicht Fahndungsfotos von Verdächtigen in der Regel erst, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Bei Public Shaming sind es keine Behörden, der Internetmob übernimmt die Publikation. Ich frage mich nur: warum? Die Täter sind namentlich bekannt, eine Anzeige ist problemlos möglich. Dass die Behörden tätig werden, davon durfte im fraglichen Fall ausgegangen werden, zumal sich sogar ein Polizeivertreter über Social Media nach Beweismitteln erkundigt hat.

Anzeige und (die mit hoher Wahrscheinlichkeit folgende) Verurteilung der Täter reicht der aufgebrachten Öffentlichkeit aber häufig nicht. Die Täter müssen öffentlich an den Pranger gestellt werden. Gerne werden bei solcher Gelegenheit auch Arbeitgeber unter Druck gesetzt, sich von dem betreffenden Mitarbeiter zu trennen. Der Mob ist erst zufrieden, wenn Existenzen vernichtet sind.

VR Cover

Fragen Sie Justine Sacco, die PR-Frau, der ein Tweet ihren Job gekostet hat. Bevor sie im Dezember 2013 ihren Langstreckenflug nach Afrika bestieg, tweetete sie: „Going to Africa. Hope I don‘t get AIDS. Just kidding. I‘m white!“. Keiner ihrer 170 Follower lachte. Wahrscheinlich wäre der Tweet folgenlos geblieben, hätte nicht ein Journalist ihn publikumswirksam zu einer Story verarbeitet. Während Sacco im Flugzeug saß, wurde ihr Tweet zum weltweiten Nummer-1-Trend auf Twitter. Der wütende Mob forderte für den vermeintlich rassistischen Ausfall ihre Entlassung. Sacco wurde tatsächlich gefeuert. Dass der Tweet zynisch gemeint war und eigentlich anprangern wollte, wie im Westen über Afrika gedacht wird – dem Netz war das egal. Existenz vernichtet, Mission accomplished.

Nicht falsch verstehen. Es gibt nichts, was die zitierten Angriffe gegen Stefanie Sprengnagel rechtfertigt. Außer vielleicht, wenn die Accounts gehackt wurden, wofür es keine Hinweise gibt. Nun könnte man natürlich argumentieren, die Hassposter wären im Unrecht und selber schuld an den Folgen. Ja eh. Bloß hätten die Leute, die Justine Saccos Entlassung forderten, wohl genauso argumentiert. Und Stefanie Sprengnagels Hassposter wahrscheinlich auch. Sich im Recht zu wähnen, kann keine Rechtfertigung für Selbstjustiz sein.

Ich glaube, dass wir besser einmal mehr überlegen sollten, bevor wir Menschen im Netz zum Abschuss freigeben. Unabhängig davon, wie sehr wir uns im Recht wähnen. Natürlich müssen Hasspostings geahndet werden – durch die Strafverfolgungsbehörden. Wenn der Kampf gegen Hass im Netz mit Kampagnen gegen einzelne Poster geführt wird, dann ist das ein Treppenwitz.

Nach 16 Jahren E-MEDIA bloggt Manfred Huber jetzt über die Technik-Themen, die ihm am meisten Spaß machen – und das ist momentan alles rund um Virtual Reality.